Als ich die Schlagzeile „Othmar Karas will EU- Parlamentspräsident werden“ las, rutschte mir ein „Oh, Gott!“ über die Lippen. Laut Eigendefinition steht der amtierende Vizepräsident des EU- Parlaments politisch in der Mitte, ist unabhängig und versteht sich als zukunftsorientierter Brückenbauer. Wie er sagt, haben ihm die sieben ÖVP- Delegierten im EU- Parlament Rückhalt zugesagt und werden ihn einstimmig für die Wahl zum Präsidenten des EU- Parlaments nominieren. Er fordert eine „gründliche Auseinandersetzung mit unserer gemeinsamen und unterschiedlichen Geschichte“, um Tendenzen der Spaltung innerhalb der EU zu überwinden. Nur; um Tendenzen der Spaltung zu überwinden, muss Herr Karas wohl über seinen eigenen Schatten springen. Er selbst forderte ja schon lange, die ungarische Fidesz- Partei (Orbans Partei) aus der EVP zu werfen; weil das keine „ja- und amen- Sager“ waren und nicht immer nach der Pfeife Brüssels tanzten. Auf diesen Ausschluss wartete aber Orban nicht, sondern kündigte selbst den Austritt an. Karas forderte auch, widerspenstigen Ländern, wie Ungarn oder Polen beispielsweise, EU- Gelder zu sperren. So lange, bis sie „brav“ werden. Oder zu streichen, wenn sie gar zu störrisch sind.
Solche Forderungen tragen sicher nicht dazu bei, Tendenzen der Spaltung zu überwinden. Und als es 2016 in den Niederlanden eine Volksabstimmung über ein EU- Assoziierungsabkommen mit der Ukraine gab und die Niederländer dagegen stimmten, meinte Herr Karas, der lupenreine Demokrat: „Nationale Referenden über EU- Beschlüsse sind eine Flucht aus der Verantwortung, ein Zeichen der Schwäche“. Und auch das Instrument der Einstimmigkeit – etwas, das zum Zusammenhalt der EU beiträgt – ist nach Meinung von Karas etwas, „das sowieso abgeschafft gehört“. Und als im Vorjahr mitten in der Corona- Krise Viktor Orban ein Notlagengesetz durchbringen wollte (er scheiterte aber damit), meinte Herr Karas dazu: „Das ist ein weiterer gefährlicher Angriff auf die liberale Demokratie und den Rechtsstaat …“ Der Lieblingsfeind der EU, Viktor Orban, erzürnte Anfang des vergangenen Jahres die EU- Herrschaften mit seiner Plakataktion gegen den Massenmigrations- Förderer George Soros. Othmar Karas, der schon lange die Suspendierung seines Parteikollegen Orban forderte, warnte den ungarischen Premier damals: „Das ist die letzte Chance, aber wirklich die letzte“. Und Anfang 2016, zur Zeit der „Völkerwanderung“, als einige EU- Grenzen wieder ein wenig kontrolliert wurden, meinte der „glühende EU- Fanatiker“ Karas gar: „Wer Schengen kaputt macht, gefährdet unseren Wohlstand“.
Ob da Karas wirklich die erste Wahl für den EU- Parlamentspräsidenten ist? Er will ja auch eine „Charta des modernen und selbstbewussten Parlamentarismus“ mit den nationalen Parlamenten und dem EU- Parlament erarbeiten und die Debatte um die Zukunft der EU weiter führen. Ersteres bedeutet wohl die völlige Entmachtung der nationalen Parlamente und Letzteres wahrscheinlich grenzenlose EU- Erweiterungsphantasien bis weit über Europas Grenzen hinaus.
Nochmals die Frage: Ist der wirklich die erste Wahl?
P. S.: Der Fraktionsvorsitzende der EVP, der Deutsche Manfred Weber, soll angeblich für den Posten des EU- Parlamentspräsidenten nicht Othmar Karas, sondern die Malteserin Metsola unterstützen, wie zu hören ist.