Die EU ist dabei, sich von einem weiteren ihrer Grundprinzipien zu verabschieden, nämlich vom Einstimmigkeitsprinzip bei Abstimmungen im Rat. Diese Einstimmigkeit ist Voraussetzung bei einigen Angelegenheiten, die die Mitgliedsstaaten als sensibel betrachten und die sind vollständig in den EU-Verträgen aufgelistet. Dann gibt es eine begrenzte Anzahl an Bereichen der Politik, die als sensibel betrachtet werden, und deswegen ebenfalls nur einstimmig beschlossen werden können. Dazu gehören Steuern, soziale Sicherheit oder sozialer Schutz, beim Beitritt neuer Mitgliedsstaaten, bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und operative polizeiliche Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten.

  Bis jetzt wurde die Einstimmigkeit z. B. bei Freihandelsabkommen durch sogenanntes „Splitting“, also Aufteilen in zwei Bereiche, ausgehebelt. Da reicht dann die sogenannte „qualifizierte Mehrheit“.  Es wäre aber nicht die EU, hätte sie sich nicht Schlupflöcher zum Umgehen der Einstimmigkeit geschaffen; das sind die sogenannten „Brückenklauseln“. Die erlauben es, die Einstimmigkeit bei Verfahren durch eine qualifizierte Mehrheit zu ersetzen.

  Diese Einstimmigkeit war auch ein wichtiger Punkt vor der Volksabstimmung über einen EU- Beitritt in Österreich. Da hieß es ja, dadurch wiegt die Stimme eines kleinen Landes wie Österreich genau so schwer und so viel wie die Stimme eines großen Landes. Dadurch können auch die Kleinen mitentscheiden. Mittlerweile haben aber sogar österreichische PolitikerInnen schon davon gesprochen, dass die Einstimmigkeit auch ein Hindernis sein kann. (Unglaublich; ein kleines Land findet nichts dabei, bei wichtigen Entscheidungen „stimmlos“ gemacht zu werden) Und das trotz der „Brückenklauseln“.

  Und jetzt passierte es, dass der deutsche Kanzler Scholz in einer Rede vor dem EU- Parlament sagte, dass eine Reform des Abstimmungssystems im EU- Rat notwendig sei. Damit mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden können. In Österreich war dieser Vorschlag des deutschen Kanzlers kein Thema. Es war davon nichts zu vernehmen, obwohl das auf Österreich gravierende Folgen hätte. Im großen Polen war das aber ein Thema. Der polnische Justizminister gab eine Pressekonferenz, in der er den deutschen Kanzler scharf kritisierte. Er kündigte an, dass die Forderung von Scholz, das Einstimmigkeitsprinzip in bestimmten Fällen aufzuheben, auf den entschiedenen Widerstand Polens stoßen würde. Der Minister erklärte: „Es gibt und wird niemals die Zustimmung des souveränen Polens zu solchen Forderungen von Herrn Scholz geben, der einerseits auf verabscheuungswürdige Weise  die Geschichte verfälscht, sie umschreiben will, aber auch die Zukunft für uns umschreiben will, um eine Geschichte von Deutschlands führender und führender Rolle im deutsch dominierten Europa zu schaffen“.

  Das war heftig. Polen will sich von Deutschland nicht entmachten lassen. Österreich hingegen akzeptiert anscheinend, dass es künftig in der EU noch weniger zu sagen hat.

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